Zur Jahreswende 1937/1938 änderte sich die sudetendeutsche Situation grundlegend. Die Haltung Großbritaniens zur Situation in der CSR wurde wesentlich durch die Medien bestimmt. Durch eine veränderte Berichterstattung, insbesondere in der "Times", erfolgte ein Prestigeverlust Beneë'. Die Zeitungen bezeichneten übereinstimmend das ungelöste Minderheitenproblem als die Ursache für die instabile Lage dieses doch von seiner Konstruktion her demokratischen Staates. Die Äußerung des britischen Botschafters Henderson seien als Beispiel zitiert: "Ein Krieg, um die Welt vor einer deutschen Politik des Gebrauchs nackter Gewalt zu retten, hat meiner Ansicht nach alle moralischen Gründe für sich. Ich kann jedoch nicht einsehen, daß wir uns - in diesem 20. Jahrhundert mit seinen Grundsätzen der Nationalität und des Selbstbestimmungsrechts - auf moralischem Boden befinden, wenn wir Krieg führen, um 3¼ Millionen Sudetendeutsche zu zwingen, minderwertige Untertanen eines slawischen Staates zu bleiben." Hinzu kam, daß die deutsche Außenpoltik jetzt direktes Interesse für die an Deutschland unmittelbar geschlossen angrenzenden Deutschen in der Tschechoslowakei und Österreich bekundete. In seiner Reichstagsrede vom 20.2.1938 erwähnte Hitler 10 Millionen Deutsche, die in den zwei an Deutschland grenzenden Staaten lebten - Österreich und die Tschechoslowakei - und bis 1866 verfassungsmäßig mit dem deutschen Volk verbunden gewesen waren. Der Schutz ihrer persönlichen und weltanschaulichen Freiheit gehöre zu den Interessen des Deutschen Reiches. Im Jahr 1938 war Hitler vom Glück außergewöhnlich begünstigt. Vielleicht hängen seine Erfolge damit zusammen, daß die nationalsozialistische Revolution, als sie die Forderung nach der Beseitigung des Versailler Systems stellte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf ihre Fahnen schrieb, eine gerechte Sache vertrat und eine wirkliche geschichtliche Sendung zu Ende führte. Ihre Gegenspieler waren von Anfang an unsicher, weil sie ein schlechtes Gewissen hatten und sich immer stärker bewußt wurden, daß sie in Versailles nicht nur Unrecht begangen und ihr Wort gebrochen, sondern auch eine widersinnige und nicht lebensfähige Ordnung in Mitteleuropa geschaffen hatten. Als Österreich wieder an das Reich angegliedert wurde zogen unter einem Blumenregen und von Hundertausenden umjubelt die deutsche Wehrmacht und dicht hinter ihnen Hitler selbst ein. In Linz verkündete Hitler den Anschluß Österreichs an Deutschland. Das Ergebnis selbst, die Erfüllung eines seit 1866 gehegten deutschen Traumes, der 1919 für kurze Zeit wieder lebendig geworden war, noch mehr die passive Haltung der Mächte angesichts des Anschlußverbots hatten stärkste Rückwirkung auf das Sudetendeutschtum. Es hatte 1918 seine Provinzen als Bestandteil der deutschösterreichischen Republik konstituiert. Zugleich mit dem Anschlußverbot war auch den Sudetendeutschen verboten worden, ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben. Nun stand das Selbstbestimmungsrecht wieder auf der Tagesordnung. *151)
Der Anschluß Österreichs, insbesondere die Begeisterung der österreichischen Bevölkerung anläßlich des deutschen Einmarsches, wirkten mit der suggestiven Macht massenpsychologischer Vorgänge auf die Sudetendeutschen sowohl auf die SdP-Führung als auch - über sie hinweg - massenpsychologisch unmittelbar auf das gesamte Sudetendeutschtum. Die in der Sudetendeutschen Partei vorhandene Gruppe, die anfangs eine Autonomie der Sudetendeutschen im Rahmen der Tschechoslowakei propagiert hatte, wurde unter dem Einfluß des österreichischen Anschlusses praktisch völlig einflußlos. Der deutsche "Aktivismus" brach über Nacht zusammen. Die sudetendeutsche Agrar- und die Christlichsoziale Partei resignierten und verschmolzen mit der SdP. Als zweite sudetendeutsche parlamentarische Vertretung verblieben nur die deutschen Sozialdemokraten. Auch sie revidierten ihr Verhältnis zum Staat. Ihr neuer Parteiführer Jaksch erklärte sich für die Unabhängigkeit und den Bestand des Staates, war aber oppositionell in der Frage der Rechte der Sudetendeutschen. Die SdP verschärfte nun ihre Forderungen um die bisherige nationalstaatliche Ordnung der Tschechoslowakei zu beenden und an ihre Stelle Nationalitätenstaatskonzept, verbunden mit außenpolitischer Kursänderung, zu setzen. Sie forderte - ausdrücklich in der Terminologie des altösterreichischen Staatsrechts - die Eröffnung von Ausgleichsverhandlungen. *152) Obwohl Deutschland offiziell die tschechoslowakische Souveränität peinlich respektierte und Göring während des Einmarsches [nach Österreich] dem tschechischen Gesandten auf Ehrenwort versicherte, daß sich die Wehrmacht in gemessener Entfernung von der tschechischen Grenze halten werde, waren die Sudetendeutschen überzeugt, daß auch für sie die Stunde einer entscheidenden Wendung geschlagen habe. Allein die Tatsache, daß die Tschechoslowakei strategisch in eine unhaltbare Lage geriet, mußte sich auf die Prager Politik auswirken. Die mit einem Milliardenaufwand errichtete tschechoslowakische Befestigungszone schützte die CSR nur gegen Deutschland, nicht gegen die österreichische Grenze. Südmähren und die empfindlichen Verbindungen zur Slowakei lagen einem deutschen Vorstoß ungeschützt gegenüber. Auf Weisung Hitlers steigerte Henlein, der Führer der SdP, seine Forderungen immer mehr. Bewußt wurden den Tschechen "unannehmbare Forderungen" gestellt, denn die meisten Sudetendeutschen wollten sich nicht mehr mit einer wirklichen Föderation zufriedengeben, sondern erstrebten nun den Anschluß ans Reich. "Wenn die Tschechen nach 1945 behaupteten, sie seien von der sudetendeutschen Delegation genarrt und an der Nase herumgeführt worden, so muß man umgekehrt auch feststellen, daß die sudetendeutschen Föderalisten von den Tschechen im Stiche gelassen wurden, weil diese ihre Zugeständnisse sämtlich zu spät, zögernd und mit Hintergedanken machten, so daß die Radikalen in der SdP leichtes Spiel hatten. Gewiß meinten es Henlein und Frank nicht ernst, als sie Benesch im August zu immer größeren Zugeständnissen veranlaßten. Aber Benesch selbst hat später in London Jaksch gegenüber versichert, er habe es ebenfalls nicht ernst gemeint und den "Vierten Plan" nur ausgespielt, um die Sudetendeutschen ins Unrecht zu setzen und sich für den Krieg eine gute moralische Plattform zu schaffen. Begrüßte er doch nach Abbruch der Verhandlungen eine Delegation von Parlamentariern strahlend mit den Worten: "Diplomatisch haben wir den Krieg bereits gewonnen." *153)
"Bei den Gemeinderatswahlen am 22. Mai und den Wahlen an den folgenden Sonntagen erhielt die SdP mehr als 90 v. H. der deutschen Stimmen. Es war der größte Wahlsieg, den je eine Partei in einer freien Abstimmung erzielt hatte. Er war um so eindrucksvoller, als man ihn unter den Panzern und Bajonetten der tschechischen Armee errungen hatte."
"Der Erfolg der Henlein-Bewegung beruhte einerseits auf dem nicht eingehaltenen, in St. Germain gegebenen Versprechen, in der CSR das Schweizer Verfassungsprinzip zu verwirklichen, andererseits kam dazu der Umstand, daß jenseits der Grenze seit 1933 im Deutschland Hitlers auf vielen Gebieten des wirtschafltichen und politischen Lebens scheinbar alle Schwierigkeiten, die bis dahin im Deutschland der Weimarer Republik bestanden hatten, überwunden waren. Schon die rasche Beseitigung der Arbeitslosigkeit in Deutschland mußte auf die Sudetendeutschen, die unter der allgemeinen Wirtschaftsdepression, die durch tschechische Maßnahmen in den sudetendeutschen Gebieten verstärkt spürbar wurde, faszinierend wirken. Da sie unter den gegebenen Umständen keinerlei Hoffnung hatten, ihre berechtigten Wünsche in der CSR jemals ohne Hilfe von außen verwirklicht zu sehen, setzten sie in Unkenntnis der tatsächlichen politischen Absichten Hitlers alle Hoffnung auf Hilfe von Deutschland. Die Erfolge Hitlers auf außenpolitischem Gebiet mußten den Eindruck erwecken, daß die Großmächte der Entwicklung in Deutschland zustimmten. Dazu kam noch der Umstand, daß die Henleinbewegung anfangs besonders von England allem Anschein nach mit Einsicht beurteilt wurde. Innenpolitisch wurde Henlein von einem Teil der tschechischen Parteien, so z.B. der Agrarpartei, in der Auseinandersetzung zwischen links und rechts im tschechischen Lager zeitweise deutlich gefödert, so daß dadurch die deutschen Regierungsparteien [in der CSR] in die größten Schwierigkeiten kamen." *156)