Die tschechischen Memoranden und das Karlsbader Programm

Wie bereits erwähnt, hatte Lloyd George noch auf der Friedenskonferenz 1919 eine Überprüfung der tschechoslowakischen Grenzvorschläge verlangt. 1938 schwenkte die englische Diplomatie wieder in diese Richtung ein. Jedoch waren ihre Bemühungen zunächst auf das Gelingen einer innenpolitischen Lösung in den Formen des Staats- und Nationalitätenrechts gerichtet. Eine internationale und damit völkerrechtliche Lösung strebte sie erst nach dem Scheitern der innerstaatlichen Versuche an. *155)

Chamberlain gründete seine Hoffnung darauf, die tschechoslowakische Regierung würde sich entschließen, den vernünftigen Wünschen der Sudetendeutschen Rechnung zu tragen. Zugleich erklärte er sich für die britische Regierung bereit, an einer Lösung der Schwierigkeiten zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei mitzuhelfen. *156)

Anfang Mai legte die tschechoslowakische Regierung in Paris und London ein Memorandum über ihre Nationalitätspolitik vor. Es bestand aber lediglich in einer Wiederholung und Rechtfertigung der bisherigen tschechoslowakischen Nationalitätenpolitik, ergänzt durch eine Liste von Maßnahmen - nicht ganz klar und auch nicht detailliert - z.B. auf sprachenrechtlichem Gebiet, Schutz gegen Entnationalisierung, Beteiligung an der öffentlichen Verwaltung, am Staatsbudget, Schulbauten, und Bildung von Inspektoraten für tolerante Nationalitätenpolitik. Das eigentliche Hindernis kam in der Schlußbetrachtung zutage: Sämtliche Maßnahmen müßten vor einer territorialen Autonomie halt machen, ebenso vor jeglicher Verfassungsänderung. In einem Augenblick, in dem die ganze Kraft der SdP mindestens auf Selbstverwaltung, wenn nicht auf Eingliederung in das Deutsche Reich gerichtet war, mußte eine solche Politik von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. Demgegenüber bezog die sudetendeutsche Partei ihre Position. Am 24. April formulierte Henlein in Karlsbad seine Forderungen. Sie beinhalteten:

  1. Die Herstellung der vollen Gleichberechtigung und Gleichrangigkeit mit dem tschechischen Volk.

  2. Anerkennung der Volksgruppe als Rechtspersönlichkeit zur Wahrung ihrer gleichberechtigen Stellung im Staat.

  3. Feststellung und Anerkennung des deutschen Siedlungsgebietes.

  4. Aufbau einer deutschen Selbstverwaltung im deutschen Siedlungsgebiet in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, soweit es sich um Interessen und Angelegenheiten der Deutschen Volksgruppe handelt.

  5. Schaffung gesetzlicher Schutzbestimmungen für jene Staatsangehörigen, die außerhalb des geschlossenen Siedlungsgebietes ihres Volkstums leben.

  6. Beseitigung des dem Sudetendeutschtums seit 1918 zugefügten Unrechts und Wiedergutmachung des ihm dadurch entstandenen Schadens.

  7. Anerkennung und Durchführung des Grundsatzes: im deutschen Gebiet deutsche öffentliche Angestellte.

  8. Volle Freiheit des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum und zur deutschen Weltanschauung.

Henlein forderte ferner die Aufgabe der deutschfeindlichen Außenpolitik und eine Umorientierung in Richtung einer mitteleuropäischen Zusammenarbeit. Der sudetendeutsche und der tschechische Regierungsstandpunkt standen sich nach der Erklärung der beiderseitigen Positionen schroff gegenüber. Die tschechoslowakische Regierung hatte nach Paris und London die Unannehmbarkeit des Karlsbader Programms mitteilen lassen. Zu diesem Zeitpunkt war klar, daß die Lösung des tschechoslowakischen Problems bei den Großmächten lag. *157)

Als die Großmächte intervenierten, überraschte der tschechische Gesandte Jan Masaryk - Sohn des Staatsgründers Masaryk - den Engländer Halifax durch seine Bemerkung, daß eine eventuelle Abtretung der sudetendeutschen Gebiete an Deutschland keine Wiederholung bei den ungarischen oder polnischen Minderheiten zu finden brauche. Er fügte hinzu, daß ein etwa notwendiger Druck auf die tschechische Regierung nicht übelgenommen würde, vorausgesetzt, er ginge von Frankreich und England aus, aber nicht von Deutschland. Die ungewöhnliche Bedeutung einer solchen Erklärung für die englische Regierung im gegebenen Zeitpunkt liegt auf der Hand. Sie mußte England das Gefühl geben, von der Tschechoslowakei nichts ungebührliches zu verlangen, käme es auch zur äußersten Lösungsform durch Gebietsabtretungen. Alle die von Masaryk angedeuteten Möglichkeiten - Schweizer Lösung, Gebietsabtretung - kehrten später als Vorschläge der britischen Regierung wieder. Als es aber um konkrete Schritte ging, hatte Halifax den Eindruck, die tschechoslowakische Regierung rüste sich eher zur Abgabe von Erklärungen über ihre Absichten, als zu ernsthaften Verhandlungen. Zu diesem Zeitpunkt bewegten sich die Forderungen der Volksgruppe noch im Rahmen des tschechoslowakischen Staates. Aber schon war der Hinweis auf das ruhende Selbstbestimmungsrecht gefallen. K.H. Frank formulierte bei einer Zusammenkunft auf Wunsch des Regierungschefs Hodû a dann auch das Ziel offen mit den Worten: Vollkommene Föderalisierung; gelingt das nicht, Plebiszit. Der Konflikt konnte sich somit jederzeit in einen zwischenstaatlichen verwandeln. *158)

"Großbritannien ergriff in der ersten Maihälfte diplomatische Initiativen in Prag und Berlin mit dem Ziel, das sudetendeutsche Problem ohne Gewaltanwendung zu lösen. Henlein hatte bei seinem gleichzeitig sattfindenden Besuch einen Vorschlag unterbreitet (neben einem Zentralparlament in Prag Landtage und regionale Selbstverwaltung der Minderheiten, Festlegung der Volksgrenzen durch unparteiisches Schiedsgericht usw.), den die britische Seite als vernünftig ansah und der sie in ihren Bemühungen bestärkte, Beneë zum Nachgeben zu bewegen. *159)


*155) vgl. Raschhofer, Hermann; Kimminich, Otto: a.a.O., S. 146
*156) vgl. ebd., S. 148
*157) vgl. ebd., S. 148 f.
*158) vgl. ebd., S. 152
*159) Habel, Fritz peter; Kistler, Helmut: 1938 - Das entscheidende Jahr, in: Informatioen zur politischen Bildung, a.a.O., S. 6

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