Das vorenthaltene Selbstbestimmungsrecht

Am 13. Dezember 1918 protestierte die deutschösterreichische Regierung bei den Siegermächten gegen die Absicht, die von mehr als drei Millionen Deutschen bewohnten Gebiete Böhmens, Mährens und Österreichisch-Schlesiens dem tschechoslowakischen Staat einzuverleiben und schlug - erfolglos - eine Volksabstimmung vor. *93) Statt dessen gaben Frankreich, Großbritannien, Italien und schließlich auch die Vereinigten Staaten ihre Zustimmung zur Besetzung der sudetendeutschen Gebiete durch tschechisches Militär, als Beneë verbindlich erklärte, daß die tschechoslowakische Regierung sich bedingungslos dem endgültigen Spruch des Friedenskongresses unterwerfen würde. Tatsächlich handelte es sich bei dem Einmarsch tschechoslowakischer Kräfte in die Sudetengebiete um einen Akt, der völkerrechtlich nicht endgültige, sondern einstweilige Verhältnisse schuf. In der Tat wurde auf der Friedenskonferenz über bedeutende Teile des von den Tschechen besetzten Sudetengebietes Vorschläge zur Übertragung an Deutschland gemacht. Noch am 22. März 1919 forderte Lloyd George eine Neufestlegung der deutsch-tschechischen Grenzen. Dies war lediglich möglich, wenn die Gebiete nur unter tschechischer Verwaltung, im übrigen aber in der Verfügung der alliierten Hauptmächte standen, die sie sich hinsichtlich der gesamten strittigen österreichisch-ungarischen Gebiete hatten übertragen lassen. Da für sie die Republik Deutschösterreich Rechtsnachfolger des kaiserlichen Österreich war, waren diese Gebiete also de jure bis zur Beendigung des interimistischen Zustandes - d.h. bis zur Unterzeichnung des Vertrages von St. Germain, der die Abtretung an die Tschechoslowakei verfügte - österreichisches Gebiet. *94)

Abbildung 5: Briefmarken von Deutsch-Österreich


Die Prager Regierung unterband die Teilnahme der Sudetendeutschen an den ersten Parlamentswahlen in Österreich. Darauf kam es in allen sudetendeutschen Städten am 4. März 1919 zum Generalstreik und zu Proteskundgebungen als "eine flammende Anklage gegen die Gewalt, mit der man unser Recht zu brechen sucht". Sämtliche politische Parteien des Sudetenlandes hatten zu dieser "allgemeinen Arbeitsruhe und Geschäftssperre" aufgerufen. *95) In einigen Orten wurde die tschechische Besatzung nervös, in anderen hatte sie es wohl von Anfang an auf ein bewaffnetes Einschreiten abgesehen. In Kaaden, in Sternberg in Mähren, in Kaplitz in Südböhmen feuerte das tschechische Militär in die waffenlose Menge. Insgesamt 54 Todesopfer waren zu beklagen. *96) Ebenfalls mit Besetzungen gingen die Tschechen gegen ungarisches Siedlungsgebiet in der Südslowakei vor. All dies Treiben wurde nachträglich von den Siegermächten legitimiert. "Obwohl sich bei einer völker- und staatsrechtlich einwandfreien Untersuchung ergeben hätte, daß die revolutionäre Neugründung eines tschechoslowakischen Staates keinen historischen Rechtsanspruch auf die alten Grenzen Böhmens, Mährens und Schlesiens einschloß und ein aufgrund der Vierzehn Punkte Wilsons und des Selbstbestimmungsrechts der Völker geschaffener Staat nicht dreieinhalb Millionen geschlossen siedelnder Menschen gegen ihren Willen und ohne sie zu befragen sich einverleiben durfte, brachte die Friedenskonferenz das Kunststück zustande, der Tschechoslowakei aufgrund des Selbstbestimmungsrechts die slowakischen Gebiete Ungarns, aufgrund eines angemaßten historischen Rechts die deutschen Gebiete der Sudetenländer und endlich noch aufgrund nackter Gewalt einen Streifen rein magyarischen Landes zuzuschlagen. Den mißhandelten Völkern und Völkergruppen blieb nur übrig zu protestieren. In feierlicher Weise nahmen die Vertreter Deutschböhmens und des Sudetenlandes im österreichischen Nationalrat Abschied von den Deutschösterreichern, mit denen sie seit 1526 ununterbrochen in einem gemeinsamen Staatsverband gelebt hatten." *97)

Der Sonderberater der amerikanischen Friedensdelegation, Prof. Dr. A. C. Coolidge, berichtete am 10. März 1919: "Würde man den Tschechen das ganze Gebiet, das sie beanspruchen, zuerkennen, wäre das nicht nur eine Ungerechtigkeit ..., sondern auch für die Zukunft des neuen Staates gefährlich und vielleicht verhängnisvoll." *98)

Im Gegensatz zu den tschechoslowakischen Vertretern bei der Friedenskonferenz, die volle Bewegungsfreiheit genossen und Ihre Angelegenheiten in aller Ausführlichkeit mündlich vortragen konnten, war die österreichische Vertretung von vornherein in einer völlig anderen Lage. Sie wurde in einigen vom Publikum abgesperrten Villen untergebracht, hatte keinerlei Bewegungsfreiheit und war von der Außenwelt vollständig isoliert und interniert. Der Meinungsaustausch konnte nur über an den Präsidenten der Konferenz gerichtete Noten vor sich gehen. Österreich hatte also im Gegensatz zur Tschechoslowakei nicht das Recht, seine Sache in unmittelbaren mündlichen Ausführungen, in freier Diskussion zu vertreten. *99)

Während die Tschechen Ihren Anspruch auf die sudetendeutschen Gebiete mit den historischen Grenzen begründeten, argumentierten sie im Bezug auf die Slowakei gerade entgegengesetzt. Das von den Slowaken bewohnte Gebiet war Bestandteil eines ausgesprochen historischen Staates, des Königreichs Ungarn. Deshalb wurde zur Begründung ihrer Einbeziehung in den tschechoslowakischen Staat das nationale Naturrecht herangezogen. Die Begründungen für die Zugehörigkeit national gesonderter Gebiete waren also diesseits und jenseits der March (des Grenzflusses zwischen Mähren und der Slowakei) nicht nur vollkommen verschieden. Die jeweiligen Grundsätze schlossen sich auch gegenseitig aus! Das historische Recht, das die Einbeziehung der Sudetendeutschen in den böhmischen Teil der Tschechoslowakei verlangte, bedingte auch den Verbleib der Slowakei bei Ungarn. Die Sprengung des historischen Verbandes auf Grund des nationalen Naturrechts, das Prag zugunsten der Slowaken gegenüber Ungarn vertrat, bedingte in Böhmen die Zugehörigkeit der Sudetendeutschen zu Österreich. *100) Stattdessen wurden der Tschechoslowakei sogar noch Gebiete aus Niederösterreich (Feldsberg, Gmünd) sowie das vormals zur preußischen Provinz Schlesien gehörende Hultschiner Ländchen zugeschlagen. *101) Andererseits verlor Österreichisch-Schlesien seine Integrität, weil die östlichen Bezirke an Polen fielen. Damit gab es aus nationalen Interessen Abweichungen von den historischen Grenzen, die die Tschechen doch immer gefordert hatten. Die Entente akzeptierte allerdings die gleichen Interessen nicht, wenn sie von Deutschen vorgetragen wurden.

Dieser Widerspruch mußte früher oder später zu Konsequenzen führen. Dies geschah von 1937 an, als nunmehr die Sudetendeutschen und Slowaken das nationale Naturrecht gegenüber den Tschechen anwendeten, zuerst in der Hoffnung auf national-föderative Autonomie, sodann mit dem Ziel nationaler Selbstbestimmung bzw. Unabhängigkeit. *102)

Auf Grundlage der Darstellung und Analyse des politischen Verhaltens der Tschechen in der Heimat kam die Denkschrift der österreichischen Delegation in St. Germain zu folgenden Ergebnissen:

  1. Auch während des gesamten Weltkrieges, und zwar bis in den Hochsommer 1918 herein, hat die große Mehrheit der gewählten politischen Vertreter der Tschechen den österreichischen Staatsverband bejaht und eine positive Haltung eingenommen.
  2. Eine tschechische Minderheit hat der österreichischen Regierung entgegengearbeitet, wie das auch bei den anderen Völkern der Monarchie der Fall war. Als Beispiel wird einer der Führer der deutsch-österreichischen Sozialisten, Dr. Viktor Adler, angeführt, der aus politischen Gründen den österreichischen Ministerpräsidenten, Graf Stürgkh, durch Revolverschüsse ermordete. Die Haltung dieser tschechischen Minderheit habe sich daher nicht grundsätzlich von der Haltung anderer Völker gegenüber der Monarchie unterschieden.
  3. Die Tschechen haben an der Tätigkeit des kaiserlich-österreichischen Parlaments bis zum Ende teilgenommen und dafür auch zwei Vizepräsidenten gestellt. Sie haben nicht während des Krieges die Haltung der sogenannten Obstruktion bezogen.
  4. Die übergroße Mehrheit der tschechischen Soldaten hat in den Reihen der k. u. k. Armee gekämpft. Die Überläufer waren eine klare Minderheit.
  5. Aus diesem Grund ist die von der Auslandsaktion vertretene Behauptung, daß sich das tschechoslowakische Volk im Krieg mit den Mittelmächten befunden habe, geschichtlich und politisch gesehen eine Unwahrheit. Sie ist lediglich eine Rechtsfiktion, die von der geschichtlichen Wirklichkeit Lügen gestraft wird. *103)

Vom Österreichischen Standpunkt aus gab es von der Auflösung der Monarchie am 12. November 1918 an "nur mehr acht Nationen ohne Staat", und diese schufen sich über Nacht eigene Parlamente, Regierungen und Heere, kurz ihre eigenen Staatswesen. "Unsere junge Republik ist wie alle anderen entstanden und ist ebensowenig wie diese der Nachfolger der Monarchie". Der Name "Deutschösterreichische Republik" wurde eigens gewählt, um den Unterschied zwischen dem alten vielsprachigen und neun Nationalitäten bezeichnenden Staat und der neuen Republik, die nur eine dieser Nationalitäten umfaßt, zum Ausdruck zu bringen (Note über die internationale Rechtspersönlichkeit Deutschösterreichs). Gebiet und Bevölkerung der früheren Monarchie insgesamt tragen daher die Verantwortung für die Folgen des Krieges. "Es ist durch historische Tatsachen klar erwiesen, daß der Krieg, was Österreich-Ungarn betrifft, ein Krieg der Dynastie für die Vorrechte des Hauses, ein Krieg der Ungarn gegen die Serben, der Polen gegen ihre Erbfeinde und Unterdrücker, namentlich Rußland, dem Hauptbeteiligten an der Teilung Polens, ein Krieg der Ukrainer gegen den Zarismus, ein Krieg der Kroaten und Slowenen einerseits gegen die Italiener, natürliche Rivalen an der Adria, andererseits um die Vorherrschaft der katholischen Südslawen über die orthodoxen Völker des Balkans gewesen ist ... Die hohe Konferenz wird aus diesen Darlegungen entnehmen, daß Deutschösterreich sich als Kriegführender wie als Rechtsnachfolger in der vollkommen gleichen Lage befindet wie seine Nachbarn, die ebenso aus der österreichisch-ungarischen Monarchie hervorgegangen sind". Im diplomatischen Kampf um die Grenzen des neuen Staates nahm die Frage der sudetendeutschen Gebiete den ersten Platz ein. In den übermittelten Friedensbedingungen waren mit einigen Modifikationen die Kronländergrenzen zwischen Ober- und Niederösterreich auf der einen, Böhmen und Mähren auf der anderen Seite vorgesehen, was gleichbedeutend mit der Gesamtabtretung der deutschen Sudetengebiete war. "Es sei unklar, unter welchen Gesichtspunkten diese Maßnahmen sich mit jenen Grundsätzen der Billigkeit, die von den Großmächten als die einzigen, um den Preis blutiger Opfer errungenen Früchte des Krieges erklärt wurden, vereinbaren ließen. Es handle sich bei Deutschböhmen, Deutschschlesien und den deutschen Gegenden Mährens, die dem tschechoslowakischen Staat unterworfen werden sollen, um geschlossene Staatsgebiete, die von nahezu 3 Millionen Deutschen in kompakten Massen bewohnt werden, ohne auf die bedeutenden Sprachinseln in Böhmen und Mähren Rücksicht zu nehmen, die nach dem allgemeinen Volksempfinden ebenfalls Teile des deutschen Österreichs seien. Man wolle auch den Böhmerwaldgau einschließlich der Gegend von Neubistritz und den Znaimer Kreis vom deutschösterreichischen Gebiet trennen, man wolle Tausende von Bewohnern Niederösterreichs unterjochen, aus dem einzigen Grund, weil ihre Heimat sich zu wirtschaftlichen Unternehmungen eines Nachbarn eignet, dem daran gelegen ist, uns unserer letzten Zuckerraffinerie, sowie der für das Handelsleben wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte zu berauben. Dort berufen sich die Tschechoslowaken auf die historischen Grenzen, hier treten sie das historische Recht Niederösterreichs mit Füßen". *104)

Die österreichische Delegation hat in der Frage der staatlichen Zugehörigkeit der Sudetengebiete nicht selbst die eigentlichen Ausführungen vorgelegt. Sie hat diese Aufgabe vielmehr den durch unmittelbare Volkswahl bestellten Vertretern des sudetendeutschen Volkes überlassen, die der österreichischen Friedensdelegation gleichzeitig als "Experten für die Abgrenzungsfragen und die Angelegenheiten der besetzten und bedrohten Gebiete" angehörten. Die Experten und Delegationsmitglieder der sudetendeutschen Gebiete waren für Deutschböhmen: Landeshauptmann Dr. Rudolf von Lodgman-Auen, Landeshauptmannstellvertreter Josef Seliger; für Sudetenland: Landeshauptmann Dr. Robert Freissler; für den Böhmerwaldgau: Anton Klement; für den Kreis Znaim und das deutsche Gebiet um Neubistritz: Hieronymus Oldofredi." *105) Deren Denkschrift vermochte ebensowenig wie alle anderen Einwendungen der Deutschösterreichischen Regierung an den Beschlüssen der Friedenskonferenz etwas zu ändern. In der Denkschrift hieß es u.a.: "Durch eine Volksabstimmung, die in den deutschen Gebieten der Sudeten gemeindeweise unter neutraler Kontrolle in Abwesenheit der tschechischen Truppen und nach einem noch zu bestimmenden Verfahren stattfinden wird, wird festgestellt werden, welchem Staat diese deutsche Bevölkerung anzugehören wünscht." Es setzte sich jedoch der tschechische nationalistische Standpunkt durch, den Edvard Beneë mit falschen Versprechungen und Fälschungen unterbaut hatte. * 106)

Die Amerikaner waren zunächst geneigt, bei der Grenzziehung das Selbstbestimmungsrecht zu berücksichtigen. In der Sitzung des Ausschusses für die tschechoslowakischen Angelegenheiten am 27. Februar 1919 hatte der amerikanische Delegierte erklärt, sein Land weigere sich, strategischen Überlegungen bei der Festlegung der tschechoslowakischen Grenzen Gewicht einzuräumen. In der Sitzung des Rates der Vier am 1. April 1919 widersetzte sich der amerikanische Delegierte Lansing der Gesamtmethode, Grenzlinien nach strategischen Grenzen zu ziehen. Der Franzose Cambon war jedoch dagegen, "Deutschland gratis zusätzliche Bevölkerung zu verschaffen" und damit einen Präzedenzfall für die Zuweisung weiterer Deutschösterreicher aufzustellen. Als Cambon weiter ausführte, daß zweifellos die fragliche deutsche Bevölkerung Böhmens lieber bei Böhmen verbleiben wolle, regte Lansing eine Volksabstimmung an. Der französische Delegierte Laroche erwiderte, diese Frage sei in der Kommission geprüft worden. Würde man in Deutschböhmen eine Volksabstimmung durchführen, so würde der tschechoslowakische Staat nur ziemliche dünne Formen annehmen. Lansing fand, daß dies kein genügender Grund sei, eine Ungerechtigkeit zu begehen. Die Amerikaner schlugen schließlich vor, einen größeren Teil Deutschböhmens zu Deutschland zu geben. *107)

Für den Fall, daß dem gesamten Sudetendeutschtum das Selbstbestimmungsrecht verweigert werden sollte, forderte die österreichische Delegation wenigstens die Vereinigung der deutschen Teile Südböhmens und Südmährens mit Österreich. Diese Vorschläge gehen von der Erwägung aus, daß sich die Unversehrtheit der deutschösterreichischen Gebiete wenigstens "auf die zusammenhängende Gesamtheit aller Gemeinden erstreckt, welche von Angehörigen ein- und derselben Nationalität bewohnt sind." Zur Festlegung dieser Grenze wird wiederum eine Volksabstimmung gefordert. Die österreichische Delegation unterstreicht damit abermals, daß sie nur Anspruch auf jenes Gebiet erhebt, in welchem der Wille des Volkes, im Schoße des selben Vaterlandes zu bleiben, klar und deutlich festgestellt wird. *106)


*93) vgl. Böse, Oskar; Eibicht, Rolf-Josef: a.a.O., S. 45
*94) vgl. Raschhofer, Hermann; Kimminich, Otto: a.a.O., S. 105 f.
*95) vgl. vgl. Böse, Oskar; Eibicht, Rolf-Josef: a.a.O., S. 48
*96) Franzel, Emil: a.a.O., S. 332 f.
*97) ebd., S. 334 f.
*98) vgl. Böse, Oskar; Eibicht, Rolf-Josef: a.a.O., S. 49
*99) vgl. Raschhofer, Hermann; Kimminich, Otto: a.a.O., S. 107 f.
*100) vgl. ebd. S. 18 f.
*101) vgl. Veiter, Theodor: a.a.O., S. 30
*102) vgl. Raschhofer, Hermann; Kimminich, Otto: a.a.O., S. 19
*103) vgl. ebd, S. 45 f.
*104) vgl. ebd. S. 111 ff.
*105) ebd. S. 114
*106) vgl. Böse, Oskar; Eibicht, Rolf-Josef: a.a.O., S. 51
*107) vgl. Raschhofer, Hermann; Kimminich, Otto: a.a.O., S. 129
*108) vgl. ebd., S. 120

Weiter zu Kapitel 16 | Zum Inhaltsverzeichnis